Interview im Deutschlandradio Kultur am 21. Januar 2015 mit Prof. Dr. Werner Schiffauer,
Deutscher Kulturwissenschaftler, Ethnologe und Publizist an der Uni Viadrina Frankfurt/Oder
Liane von Billerbeck (Deutschlandradio Kultur): Es ist schon fast eine Floskel, dieser Satz, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Denn so viele Zuwanderer, Flüchtlinge wie nie kommen hierher, das lässt sich auch im heute erscheinenden Migrationsbericht des Innenministers nachlesen. Deutschland ist attraktiv für Einwanderer, und diese Einwanderer verändern Deutschland. Wenn sich Deutschland aber so verändert, müssen wir dann nicht darüber nachdenken, was das eigentlich ist, deutsch? Der Mann, mit dem ich jetzt telefonisch verbunden bin, der fordert eine Debatte um deutsche Identität, Werner Schiffauer. Er ist Vorsitzender des Rates für Migration und zudem Professor für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Schönen guten Morgen!
Werner Schiffauer: Ja, guten Morgen, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Wenn jemand heutzutage "wir Deutsche" sagt, was versteht er oder sie gemeinhin darunter?
Schiffauer: Na ja, jeder soll es bei sich selber ausprobieren. Wenn er sagt "wir Deutsche", meint er zunächst einmal die Herkunftsdeutschen oder Bio-Deutschen oder Ethno-Deutschen oder wie auch immer. Normalerweise werden diejenigen nicht eingefasst, deren Großeltern, Urgroßeltern eingewandert sind, die werden nach wie vor als Ausländer gesehen.
von Billerbeck: Ist dieses "wir Deutsche" also schon eine Abgrenzung, hier wir, dort ihr, hier das Eigene, dort das Fremde?
Schiffauer: Genau. Hier sind wir, die eigentlichen Deutschen, und da sind die, die anderen Deutschen. Und wo wir hinkommen müssen, ist, eine Kultur der Einwanderergesellschaft zu entwickeln, wo es ganz selbstverständlich wird, dass das "wir" auch die einschließt, deren Großeltern etwa hier eingewandert sind, oder, um eine andere Gruppe zu nennen, die schwarzen Deutschen oder die Roma, die immer schon hier waren.
von Billerbeck: Man könnte also sagen, dass selbst Wohlmeinende wie beispielsweise die Bertelsmann-Stiftung, wenn sie in einer Studie die Frage beantwortet, was Migranten für die deutsche Wirtschaft leisten, dann auch subtil fremdenfeindlich sind, weil sie sagen: hier wir, dort ihr?
Schiffauer: Genau. Das sind so subtile Rahmungen, die bis weit in die Mitte, ja sogar bis in die Linke hineingehen, die eigentlich fremdenfreundlich sind, aber damit etwas reproduzieren, was sie eigentlich bekämpfen wollen. Um jetzt auf die Bertelsmann-Studie zu kommen: Die Frage, was kostet oder was bringt uns ein Einwanderer in Bezug auf Steuern oder Sozialleistungen, wäre eine gleiche Frage, wenn man fragen würde, was kostet der Ostdeutsche der Republik? Und wie unmöglich diese letztere Frage ist, sie ist genauso unmöglich wie die erste … Da spürt man, dass da wieder Grenzen errichtet werden, Wir-Ihr-Gruppen unterschieden werden. Es gibt eine Wir-Gruppe, die fragt, was bringt das uns, was bringen die anderen uns?
von Billerbeck: Ich höre schon den Aufschrei, wenn jemand so eine Studie verfasst hätte, was kosten uns die Ostdeutschen oder was bringen uns die Ostdeutschen!
Schiffauer: Oder die Frauen oder die …
von Billerbeck: Oder noch schlimmere Menschen! Ein stramm Konservativer allerdings, der würde Ihnen wahrscheinlich entgegenhalten wir haben ja bisher erst über die Mitte und die Linken gesprochen , ein stramm Konservativer könnte jetzt aber nun sagen: Aber es gibt doch so was wie eine deutsche Identität, was immer man auch darunter fasst!
Schiffauer: Nun ja, die deutsche Identität, das wissen wir nun genau, ist ein Produkt des 19., des 20. Jahrhunderts. Hier wurden die Erzählungen hergestellt, mit denen wir eine deutsche Nation uns konstruiert haben und das weit in die Vergangenheit, bis ins Mittelalter, frühe Mittelalter zurückprojiziert haben, um da eine Kontinuität herzustellen. Das war weder vorher sozusagen im Bewusstsein, noch ist es noch zeitgemäß.
Denn wir müssen uns immer fragen: Was wird denn bei dieser Konstruktion einer homogenen Nation ausgeblendet? Und lasse Sie es mich an Berlin illustrieren: Berlin ist nur das, was es ist, durch die Hugenotten, also die Niederländer, die Böhmen, die Polen, die Türken, die Araber, die alle hierher gekommen sind und über die Jahrhunderte hinweg die Stadt gebaut haben. Die Polen und Russen muss ich noch erwähnen.
von Billerbeck: Das Beispiel, wenn Sie es nicht gebracht hätten, man kann auch das Ruhrgebiet hinzufügen. Das heißt, Deutschland ist nicht das Land, wäre nicht das Land, das es heute ist, ohne Zuwanderer. Trotzdem, was ist anders an der Zuwanderung heute, dass wir jetzt darüber nachdenken müssen, was ist deutsch?
Schiffauer: Nun, wir kommen allmählich in eine Phase, wo uns deutlich wird, wir leben in einer postmigrantischen und einer postnationalen Gesellschaft. Die Grenzen, die Deutschland umfassen, umfassen bei Weitem nicht mehr den Raum, den sie in den 70er-Jahren umfasst haben. Wenn Sie überlegen, was in den 70er-Jahren alles durch die Grenzen markiert wurde damals: der Währungsraum, der Bildungsraum, der Wirtschaftsraum, der Steuerraum, der Sicherheitsraum.
Wenn Sie heute im Zeitalter von Schengen, Euro darüber nachdenken, werden Sie sehen, dass der Nationalstaat an Bedeutung verloren hat. Das spiegelt sich auch in den Einwanderungen. Also, wir leben zum einen in einer postnationalen Ordnung, wir leben aber auch in einer postmigrantischen Ordnung, insofern die Migration ins Alter gekommen ist. Aus Migranten wurden Minderheiten, die hier in Deutschland ankommen wollen und als Deutsche einen Platz mit ihrer und in ihrer Differenz behaupten wollen.
von Billerbeck: Nun fordern Sie ja eine Debatte über das Thema "Was ist deutsch" ja vermutlich nicht zufällig gerade jetzt. Was bedeutet sie gerade in solchen Zeiten, da unter der Überschrift "Pegida" viele Menschen auf die Straßen gehen und das Abendland bedroht fühlen?
Schiffauer: Na ja, Pegida ist eine Bewegung, die wieder den homogenen Nationalstaat zurücksehnt und die vermeintliche Sicherheit, die der homogene Nationalstaat versprochen hat. Ein Versprechen, das er nie gehalten hat. Und diese Pegida-Bewegung lese ich als eine populistische Bewegung, die im Namen eines Volkes dann wiederum die Eliten angreift aus Wirtschaft, Medien et cetera, die im Namen politischer Korrektheit die Augen verschließen vor den Entwicklungen.
Was hier zum Ausdruck kommt, sind reale Sorgen, Sorgen, die die Gestaltung einer postnationalen Ordnung betreffen, wo man das Gefühl halt, man ist nicht mehr Herr im eigenen Haus. Ist man auch nicht mehr. Was problematisch ist, ist natürlich, dass sich das wieder auf eine Minderheit fokussiert und die Muslime in dem Fall für die Schwierigkeiten und tatsächlichen Probleme, die wir anfassen müssten, verantwortlich gemacht werden. Und hier wird wieder ein Anderes konstruiert zur Nation, es wird ein "die" konstruiert, die verantwortlich sind. Mit diesem Prozess wurden auch die Juden 1933 aus der Nation hinausgeschmissen.
von Billerbeck: Woraus sollte denn Ihrer Meinung nach dieses "wir Deutsche" heute bestehen?
Schiffauer: Es muss ein inklusives Wir sein. Es muss ein Wir sein, das einschließt, das diejenigen mit einer Selbstverständlichkeit dazu bringt, "wir Deutsche" zu sagen, deren Großeltern eingewandert sind. Das die Schwarzen in Deutschland mit Selbstverständlichkeit ermöglicht zu sagen "wir Deutsche", wie in den USA Schwarze Amerikaner natürlich sagen können "wir Amerikaner".
von Billerbeck: Und Sie wollen jetzt die Debatte initiieren, eine Leitbildkommission gründen. Meinen Sie, so eine Debatte kann man von oben anfangen?
Schiffauer: Es müssen alle gesellschaftlichen Kräfte zusammenwirken. Wir haben ermutigende Beispiele, wo so ein Wir schon wächst, das ist in unseren Großstädten. Die Einwanderer finden es völlig unproblematisch zu sagen "wir Berliner", "wir Kreuzberger". Und auch wenn die Herkunftsdeutschen das Wort "wir Berliner" in den Mund nehmen, dann schließen sie automatisch die Neuzuwanderer ein. Das existiert also, es existiert, in Teilen der Gesellschaft haben wir bereits ein inklusives Wir. Daran muss man anschließen.
Wir müssen uns nur mal überlegen, was man machen kann etwa im Bereich der nationalen Erzählungen, der selbstverständlichen Rahmungen. Neulich ist mir die Ausstellung im Historischen Museum in Berlin aufgefallen, da wird die Auswanderung in die USA und die Flüchtlinge, die nach Deutschland nach dem Krieg gekommen sind, ganz anders gerahmt als etwa die Arbeitsmigration. Das hat eine Studentin von uns ganz hervorragend herausgearbeitet. Diese Sachen muss man verändern.
Hier muss man sagen, dass es im Prinzip ähnliche Bewegungen sind, dass die Leute ähnliche Probleme haben, dass man nicht die einen Migrationen als unsere Migrationen begreifen kann und die anderen als die der anderen.
von Billerbeck: Werner Schiffauer war das, Vorsitzender des Rates für Migration und Professor für Kultur- und Sozialanthropologie an der Viadrina in Frankfurt (Oder). Herr Schiffauer, ich danke Ihnen und hoffe auf eine sehr interessante Debatte, die Sie da anstoßen!